Müde saß er in seinem kleinen Hotelzimmer. Klein? Nein, eigentlich war es winzig. Gerade groß genug, einem schäbigen Schrank und einem alten Bett, mit durchgelegener Matratze und klapprigem Rost, Platz zu bieten. Gerade groß genug, um von der Zimmertür, die zu allem Überfluss auch noch nach innen aufging, zwei Schritt zu machen und sich dann auf das quietschende Bett fallen zu lassen.
Wieso kam ihm diese Situation, dieses Szenario, nur so bekannt vor? Ach ja. Er erinnerte sich. Aus etlichen Erzählungen, Geschichten und Romanen. In denen der Held müde und einsam, vielleicht sogar gestrandet, in einer fremden Stadt, in einem schäbigen Hotel in einem ebenso schäbigen Zimmer saß, sich seine Gedanken machte und dabei dem streitenden Paar im Zimmer nebenan lauschen musste. Und wenn sie nicht stritten, dann schliefen sie lautstark in einem, auf Nerven strapazierende Art und Weise, quietschenden Bett miteinander. Und wenn es kein Paar war, dann war es eine alte Frau, die mittlerweile halb taub war oder ein einsamer, verzweifelter Mann, der den Fernseher viel zu laut gestellt hatte.
Er lauschte. Nichts. Kein Pärchen, kein Fernseher, kein Streit. Nur Stille. Stille, die ihn einhüllte, wie ein großes schweres Tuch. Welche Farbe mochte das Tuch haben? Weiß – wie ein Leichentuch? Schwarz – wie eine endlose Nacht? Nein. Er war sich sicher. Könnte er dieses Tuch sehen, statt es körperlich zu spüren, dann hätte es die Farbe eines verregneten Novembertages. Schmutziggrau. Stille. Schmutziggraue Stille.
In den Erzählungen und Romanen war auch immer solch ein Tag, nicht wahr? Schmutzig, grau, nass und meistens kalt.
Versonnen blickte er aus dem Fenster. Er konnte den Himmel sehen, der sich in einem unerbittlichen Blau zeigte. Hin und wieder eine kleine weiße Wolke. Nein, es war ein schöner Tag. Nicht etwa warm, nein. Aber doch ein schöner Tag. Altweibersommer. Die Sonne sah zwar kräftig aus und schaffte es auch, die Menschen zu wärmen, solange sie windgeschützt saßen, aber wehe wenn nicht... Dann wurde es kalt. Bitterkalt. Schattenkalt. Der Wind blies kräftig, und am Abend und in den frühen Morgenstunden, konnte man seinen eigenen Atem in weißen Wölkchen aufsteigen sehen.
Nichts war so, wie er es oft gelesen hatte und doch kam es ihm so vor, als würde alles stimmen. Aber WAS war es eigentlich, das stimmte? Warum war er überhaupt hier?
Er hatte zu Hause – das war eine nicht allzu große, aber sehr gemütliche Wohnung im Randbezirk der Innenstadt, zentral, aber nicht unruhig – auf seinem schwarzen Ledersofa gesessen, bei dem an manchen Stellen das Leder schon merklich dünner wurde. Und er hatte ferngesehen. Was er gesehen hatte? Fußball? Fußball. Er hatte da gesessen und zugeschaut, wie zwei Mannschaften um einen schwarz-weißen Ball kämpften. Das Spiel war langweilig gewesen. Zur Mitte der zweiten Halbzeit hatte es noch immer 0:0 gestanden – keine Aussicht auf Änderung. Seine Gedanken waren abgeschweift. Wohin? Weit, weit weg. Aber was hieß das? Was war weit weg?
Fragen, Fragen, Fragen. Keine Antworten.
Auch das Fenster, vor dem sich das strahlende Blau des Tageshimmels in ein glühendes Rot und schließlich in ein tiefes, umfassendes Schwarz verfärbte, gab ihm keine Antwort. Der Mond blickte klar auf die einschlafende Stadt. Vereinzelt blinkten die ersten Sterne auf. Aber auch sie wussten keine Antworten.
Warum er hier war, diese Frage versuchte er inzwischen nicht mehr zu lösen. Die Frage, die ihn jetzt beschäftigte war vielmehr: was würde ihn erwarten, wenn er wieder nach Hause ging? War etwas Schlimmes passiert? Hatte ER etwas Schlimmes getan? Was würde ihn erwarten? Die Leiche einer Frau – seiner Frau – an die er sich nicht erinnern konnte, die er im Streit getötet hatte? Eine Blutlache? Ein abgetrenntes Bein im Schirmständer, eine Hand in der Vitrine und ein Kopf im Brotkasten? War er ein Irrer, der sinnlos mordete und schändete, ohne sich jetzt erinnern zu können? Dunkle, graue Wolken zogen auf und vernebelten seine Gedanken noch stärker. Vielleicht würde die Polizei schon auf ihn warten. Hatte jemand Schreie gehört? Würde die Polizei ihn hier finden können? In der Anonymität einer Großstadt, in einem kleinen Hotel? Welchen Namen hatte er der Rezeption genannt? Welches WAR denn sein Name?
Ein schrilles Klingeln zerschnitt seine Gedanken, wie ein Steakmesser durch zartes Fleisch glitt.
Das Telefon.
Er starrte den hässlichen grauen Apparat an. Wer mochte das sein? Ein Polizist? Ein Freund? Ein Feind?
„Ja? Hallo?“ Zögerlich, vorsichtig.
„Hallo, wie geht es dir? Hast du dich etwas ausgeruht?“ Eine angenehme, eine weiche Stimme. Eine weibliche Stimme.
„Ja?“ Vorsichtig, zögerlich.
„Du klingst müde. Ich wollte dir gute Nacht sagen. Gute Nacht.“ Weich, angenehm, beruhigend.
„Ja. Gute Nacht.“ Zögerlich, vorsichtig, beruhigt.
„Schlaf gut.“ Klick. Tut tut tut tut tut tut tut tut tut tut tut tut…
Der Hörer fühlte sich plötzlich heiß an. Er ließ ihn fallen.
Tut tut tut tut tut tut tut tut tut tut tut tut tut tut tut tut tut tut...
Klopfen. Tut tut tut … Die Tür. Tut tut tut… Die Polizei?
Die Klinke wurde gedrückt. Hatte er die Tür abgeschlossen? Nein: Sie schwang leise und lautlos auf. Licht drang vom hell erleuchteten Flur herein und tauchte die nahende Gestalt in eine gespenstische Aura.
„Ich bringe ihr Abendessen, Herr Peterson.“
Peterson. Sein Name. Vielleicht. Peterson. Das Abendessen. Zimmerservice.
Das Essen hatte ihn müde gemacht. In seinem kleinen Koffer fand er einen Pyjama. Das Bett war gemütlicher, als es aussah. Er wollte einschlafen.
Aufgeschreckt. Mitten in der Nacht. Stockfinster. Seine Feinde konnten überall sein. Wie sollte er nur nach Hause finden, um seine tote Frau zu entsorgen? Seine Frau? Hatte er denn eine? Und warum war sie tot? Wer sollte ihn verfolgen? Träume? Nein, keine Träume. Keine Erinnerung.
Er fühlte seine Stirn. Sie war feucht und heiß. Fieber? Oder war es nur die Angst? Angst vor was? Was hatte er getan? Warum war er hier?
Das Abendessen. Es fiel ihm wieder ein. Das Messer war stumpf. Aber die Gabel – ja, sie konnte man zur Verteidigung brauchen. Er stand auf und ging zu seinem Tablett.
Mit der Gabel in der Hand schlief er fest wieder ein.
Helles Licht. Sie hatten ihn! Er war gefangen. Konnte sich nicht bewegen! Hilfe! Seine Stimme. Versagte.
Dunkelheit. Eine sanfte Berührung.
„Wach doch auf.“
Die Augen flattern. Lassen sie sich öffnen? Haben sie sie zugenäht? Erleichterung. Ein Lichtstrahl, der die Netzhaut trifft. Ein unscharfes Bild.
„Hallo.“ Erleichterung.
Eine Frau. Blond und gutaussehend. Was tat sie hier? In seinem Hotel?
„Was....?“ Panik.
Ein Mann betritt sein Zimmer. Was wollten all diese Leute hier? Der Mann trägt einen weißen Anzug. Die Sonne reflektiert auf dem Stoff. Das tut weh...
Die Gabel. Er musste sich wehren können. Sie war verschwunden. Sie würden ihn kriegen.
„Doktor, wie geht es ihm?“ Besorgnis.
„Liebe Frau Peterson, ihrem Mann geht es den Umständen entsprechend gut. Die Operation hat sehr lange gedauert. Aber der Tumor konnte entfernt werden. Er blockierte das Erinnerungsvermögen ihres Mannes und durch die Medikamente, die sein Hausarzt ihm verschrieben hatte, bekam er schizophrene Schübe und litt wohl auch noch unter Verfolgungswahn. Wenn er wieder richtig wach ist, wird seine Erinnerung langsam zurückkehren. Es wird dauern, aber er wird gesund werden. Unsere Spezialisten haben gute Arbeit geleistet.“ Zuversicht.
„Meinen Sie wirklich? Er wird in Ordnung kommen?“ Besorgnis.
„Aber sicher. Gönnen Sie ihm noch etwas Ruhe.“ Zuversicht. „Würden Sie jetzt vielleicht kurz mitkommen, damit wir die restlichen Formalitäten noch regeln können?“ Geschäftigkeit.
Er hörte die Worte, aber sie waren sinnleer. Einzelne Buchstaben, zusammengefügt zu Worten, deren einzelne Bedeutung er kannte. Sätze, die ohne Inhalt schienen. Sie hatten ihn erwischt. Sie hatten etwas mit ihm angestellt. Er musste fliehen. Bevor die Frau und der weiße Mann wiederkamen.
Konnte er sich bewegen? War er gefesselt? Nein. Arme und Beine ließen sich anheben. Jetzt schnell. Der Kopf dröhnte und pochte. Das verschwommene Bild, das seine Augen ihm lieferten, wurde kurz schwarz. Dann war es wieder da. Undeutlich, aber immerhin. Schnell jetzt. Das Fenster. Der Himmel. Blau und Rot.
NEEEEIIIIINNNNN!
Ein langer Schrei. Nicht von ihm. Schwerelosigkeit. Leichtigkeit. Nichts. Schwarz. Er war entkommen.
Und seine Frau? Sie stand fassungslos am Fenster des kleinen Krankenzimmers im 15. Stock der Städtischen Kliniken. Sah den Sturz ihres Mannes. Sah, wie sein Körper auf dem harten Asphalt aufschlug. Zertrümmert. Zerbrochen. Der weiße Verband an seinem Kopf färbte sich rot.
fertiggestellt am 22. November 2001