Hier stehe ich im Garten der Frau, die die Mutter des Mannes ist, dem mein Herz gehört. Ein Ort voller Kraft und Wildheit. Sie steht neben mir, alt, gebrechlich. Ich kann sie fühlen, die Kraft, die sie einst durchströmte. Wie ein Schatten liegt sie noch immer auf ihr. Nicht zu greifen und mit den Jahren zu flüchtig, vielleicht sogar brüchig geworden. "Der Garten ist wunderschön", wispere ich. Mein Atem wird zu weißen Wolken. Es ist noch sehr früh. Die Sonne ist erst vor Kurzem aufgegangen. Reif liegt über den schattigen Teilen dieses kleinen, wilden Paradieses.
Es scheint, als würde sie seufzen. "Meine Tochter bezeichnet ihn als Unkrautacker."
Ich muss schlucken. Fühle den Schmerz, der in diesen Worten mitklingt.
"Es ist ein kraftvoller Ort."
Erneut ein Seufzen. Sie zieht ihre Strickjacke fester um sich, während meine Finger kribbeln. Nicht vor Kälte. Dieser wilde Garten ist voller unbändiger Energie. Im Versuch, sie zu greifen bewege ich die Finger leicht und die alte Frau lächelt.
"Du weißt nicht, warum du hier bist, oder?"
Ich schweige einfach. Was soll ich auch sagen. Ihr Sohn hat mich hergebeten. Früh. Er hat mir vor einigen Tagen eine Nachricht geschickt. Mit Ort und Zeit und der Bitte, zu kommen. Seitdem habe ich nichts von ihm gehört.
Als ich vor Stunden, im Dunkeln, in meinem Bett lag, plagten mich Zweifel. Es war nie einfach zwischen uns. Wir sind kein Paar. Flüchtige Bekannte, vielleicht. Und doch… er hält mein Herz und weiß es vielleicht nicht einmal. Wüsste ich es nicht besser, würde ich glauben, unter einem Bann zu stehen.
Doch ich schüttelte die Zweifel ab. Setzte mich in mein Auto und fuhr. Kilometer um Kilometer. Die Autobahn angenehm leer.
Als ich vor dem Häuschen stand, das ein bisschen zu alt, ein bisschen zu heruntergekommen, ein bisschen zu schief war, nagten sie wieder, die Zweifel.
War das hier richtig? Ich brauchte ein paar Minuten, um mich zu lösen, die Schritte zur Haustür zu machen. Die Klingel zu drücken. Er war es, der mir die Tür öffnete und mein Herzschlag setzte einen Moment lang aus. Doch ich sah die Erleichterung in seinem Blick, seiner Haltung. Ohne ein Wort zu sagen, ließ er mich herein. Vorsicht. Behutsam. Immer genügend Abstand, um nicht aufdringlich zu wirken. Noch bevor ich etwas sagen konnte, kam seine Mutter, musterte mich, bedeutete mir, ihr in den Garten zu folgen.
Hier standen wir nun. Die Kälte kroch langsam tief in den Körper, so wie die Zweifel durch meine Gedanken krochen. Bann. Diese Frau hatte einst Macht. Wer sagt, dass sie nicht noch immer genug hatte. Oder sie auf ihre Kinder übertragen hatte. Vielleicht war mein persönlicher Schutzschild nicht so stark, wie ich dachte.
"Nein", antwortete ich schließlich ehrlich auf ihre Frage.
Sie schwieg. Vielleicht einen Moment zu lange.
"Du fühlst die Kraft dieses Ortes… kannst du sie... nutzen?"
Es durchfuhr mich. Elektrisierend, denn ich erinnerte mich an eine Frage, die Dennis mir gestellt hatte. Aber ich nickte. Ehrlich. Fühlte die unschuldige und reine Kraft, die der Garten mir nur zu bereitwillig gab. Trotz der frostigen Temperaturen wurden meine Hände warm, die Luft um sie schien zu flimmern.
Die Alte nahm meine Hände in ihre. Sie waren kalt und steif. Doch sie lächelte mich an.
"Bist du eine Hexe?"
Ich schloss kurz die Augen.
"Nein."
"Nein?"
"Die Antwort ist immer Nein. Entweder weil sie wahr ist, oder weil sie es nicht ist und man deswegen niemals mit Ja antworten würde."
Ein Nicken. Kaum zu merken.
"Er hat Angst. Es gibt eine Prophezeiung."
Mir lag auf der Zunge, was ich von Prophezeiungen hielt, doch ich schwieg. Eine Prophezeiung ist eine Momentaufnahme, die wir mit jeder Entscheidung, die wir treffen, in eine andere Richtung lenken können und es tagtäglich tun. Oder vielleicht tun wir das auch nicht. Das große Problem an Prophezeiungen ist, dass man sie nur im Nachhinein interpretieren kann, man kann sie im Voraus nur selten so verstehen, dass sie den Blick schärfen, statt ihn zu trüben. Was ein Nostradamus meinte, wissen wir ja selbst in unserer retrospektiven Interpretation nicht. Doch ich ließ die Frau reden.
"Eine Frau, eine Hexe, soll sein großes Unglück sein."
Mit geschlossenen Augen stand ich nun da, das Herz fast erfroren. Die Hände in den Händen der Frau, die es brechen lassen konnte. Ich öffnete die Augen, eine Träne löste sich. Auf keinen Fall wollte ich hören, was sie sagen würde.
"Du bist nicht diese Frau." Wärme schwang in ihrer Stimme mit. "Lass uns reingehen, bevor wir erfrieren."
Sie wandte sich zum Gehen, doch in meinem Inneren tobte Chaos.
"Ich möchte noch einen kurzen Moment bleiben…"
Sie nickte und ging. Murmelte im Gehen: "Beschütze ihn…"
Einen kurzen Augenblick später, oder vielleicht auch Äonen, legte sich eine kräftige Hand auf meine Schulter. "Komm rein, es ist kalt…" Ich spürte seine Wärme und sie beruhigte das Chaos. Wie gerne hätte ich mich an ihn gelehnt und mich in seine Arme geschmiegt. Ich schaute zu ihm hinauf, das Gesicht regungslos, so wie seins.
"Vielleicht sollte ich heimfahren."
Ein Moment des Zögerns, des Schweigens. Eine leise Antwort, vielleicht geflüstert, vielleicht gedacht, vielleicht eingebildet: "Bitte nicht."
Er zog mich leicht zu sich und etwas in mir gab nach. Dieser Garten. Könnte es einen besseren Ort für einen ersten Kuss geben? Nur sanft, fast flüchtig. Eine flatterhafte Berührung. Warm. Weich. Voller Vertrauen.
Wie in Trance redete ich mit ihm, seiner Mutter, seiner Schwester und seinen Brüdern. Ich weiß nicht, über was. Ich weiß nicht wie lange. Es gab Kaffee und Kuchen, für den es viel zu früh war. Lachen und Geschichten, ernste Blicke und flüchtige Berührungen.
Bis es klingelte. Erstaunen. Erwartet wurde wohl niemand. Der Bruder ging und öffnete die Tür. Worte wurden gewechselt. Ein wenig zu laut, ein wenig zu schrill.
Energisch betrat eine Frau den Raum und ich spürte die Anspannung. Schnurstracks ging sie auf Dennis zu. Fordernd. Selbstbewusst. Die Hand, die gerade noch unschuldig auf meinem Knie gelegen hatte, wurde weggezogen. Unruhe stieg in mir auf. Aber es war nicht meine. Lachend und schnatternd setzte sie sich zu ihm, nah. Viel zu nah. Seine Mutter schaute mich an, eindringlich.
Was genau ging hier vor sich?
Diese Frau, auch wenn sie blind war, hatte die Aura einer alten Seherseele. Aber nicht nur. Etwas tief Abstoßendes war in ihr. Und niemand konnte sich ihrem Geplapper entziehen. Mein Herz schloss sich und ich betrachtete aus der Distanz das Geschehen. Der Blick seiner Mutter wanderte. Zu ihr, zu mir. Ich stand auf und ging auf etwas Abstand, schaute durch das Fenster in den Garten. Doch es passierte etwas.
"Was meinst du damit? Ich soll gehen?!"
Die Stimme zu schrill. Und wütend. Ich drehte mich um und sah, wie Dennis sie anschaute. Ich musste lächeln. Ihr Bann wirkte hier nicht. Und sie würde jeden Moment zur Furie werden. Ich spürte, wie seine Mutter Kraft sammelte. Die Fremde sprang auf, zischte ihn an. Geiferte. Fokussierte seine Mutter.
"Du alte Närrin! Was glaubst du, kannst du ausrichten? Deine Macht ist nicht mehr als ein Glimmen der Glut im Ofen."
Die Stimme seiner Mutter war fest. "Manchmal reicht ein Glimmen, ein neues Feuer zu entfachen."
Ich spürte, wie sie begann, ihren Sohn zu schützen. Verzweifelt. Ihr Blick suchte meinen, doch ich war nur Beobachterin. Die Fremde schaute Mutter und Sohn abwechselnd an. Lächelte ihn an.
"Komm. Du gehörst einfach zu mir."
Ein Kopfschütteln, kaum wahrnehmbar. Ihre Aura verfinsterte sich und sie hieb mit aller Macht ihres Geistes zu. Als wolle sie ihren Fluch in ihn hineinhämmern. Die Mutter stöhnte schmerzerfüllt auf. Und ich beobachtete. Ein bösartiges Lachen kam von der Fremden.
"Du bist eine alte Närrin. Du kannst ihn noch immer schützen. Aber du musst dich entscheiden. Ihn, dich selbst, deine anderen Kinder."
Ich spürte, wie sie ihren Fluch umlenkte. Es war, als würde man einer Katze zusehen, die nur so zum Spaß mit einer Maus spielte.
"Odessa nimmt, was sie will. Und wenn er nicht will, nehme ich eben alle anderen."
Was sie entfesselte entsprang Jahrhunderten von Qualen, die ihr Volk hatte erleiden müssen. Es war grauenvoll und finster. Das Ziel: Alle. Außer ihm, den sie nicht erreichen konnte unter der Mauer, die seine Mutter hielt. Und mich, weil ich nur ein unbedeutender Fremdkörper war.
Die Finsternis, die sie beschwor war voller Schmerz. Und sie schleuderte sie der Familie entgegen. Die Mutter entsetzt, vor die Wahl gestellt, wen sie schützen soll. Ein tiefer Atemzug und ich zog eine Mauer hoch. Fest. Undurchdringlich. Die Mutter ließ ihren Schutz fallen. Erschöpft. Die Söhne hielten sie. Und Odessas Fokus richtete sich auf mich. "Wer bist du?"
Ihrem Blick hielt ich stand, schweigend. Ich schaute in ihre Seele. Sah den Schmerz. Ihren. Den vieler. Schmerz, verwandelt in Wut und dann in Hass. Es ging ihr nicht um den Menschen. Es ging ihr darum, jemanden zu besitzen.
"Geh bitte einfach", bat ich sie. "Hier gibt es nichts für dich."