Der Blick aus dem Fenster zeigte das triste Grau in Grau der Stadt. Flüsse wie Tränen hinterließ der Regen an den Scheiben, die ihr kleines Reich von der Welt trennten. Eine Welt, die sie weder hasste, noch liebte. Eine Welt – so gleichgültig wie das stete Tropfen des Regens aus der überlaufenden Regenrinne.
Der Abend stand bevor – nein, eine Dämmerung, einen Sonnenuntergang, sah man nicht. Die Wolken hingen zu dick, als dass der Himmel sein Antlitz hätte zeigen können. Aber die flackernd aufleuchtenden Straßenlaternen kündigten die Dunkelheit an. „Wenn die Straßenlaternen angehen, musst du zu Hause sein.“ Das war immer die eindringliche Warnung ihrer Eltern gewesen. Meistens hatte sie sich daran gehalten. Meisten… Heute gab ihr niemand mehr Warnungen mit auf den Weg.
Die Welt schien sie in Watte gepackt zu haben. Der Lärm der Autos schallte nur dumpf zu ihr herauf. Menschen hetzten auf dem Heimweg von der täglichen Arbeit.
Wie sich wohl schlafwandeln anfühlte? Ob es so wäre, wie sie sich fühlte? Schwere Glieder, leerer Kopf.
Langsam und bedächtig durchquere sie das Zimmer, das sie seit einiger Zeit bewohnte. Ein Wohnheim. Tür an Tür mit Fremden. Wie in Zeitlupe öffnete sie den Kleiderschrank, verschaffte sich einen Überblick, um dann eine enge Lederhose und ein leuchtend rotes Top heraus zu ziehen. Noch in den Badmantel geschlungen, der klamm war vom Wasser des Duschens, den Kopf nach vorne gebeugt, fönte sie ihre langen Haare trocken, legte ein dezentes Make-Up auf – die intensiv-blauen Augen extra betont, den Rest vernachlässigt.
Die Kleidung passte, als sei sie ihr auf den Leib geschneidert und die Dunkelheit hatte den Regen vertrieben. Die Wolken brachen auf und der Mond blitze zwischen ihnen hervor. Es klopfte. Sie zog hastig ihre schwarzen Stiefel an und schnappte ihre Lederjacke, bevor sie öffnete und auch gleich den Raum verließ – bloß niemanden herein lassen. Ihr Reich. Ihre Grenzen.
Die Beleuchtung im Treppenhaus flackerte bedenklich. Den Rückweg würden sie wohl im Dunkeln ertasten müssen. Die Straße glänzte nass und reflektierte das Scheinwerferlicht der vorbei brausenden Autos. Hier und da hupte ein ungeduldiger Autofahrer – aber das war nicht ihre Sorge. Das Ziel war die U-Bahn.
Wie hungrige Münder verschluckten die Eingänge zu den U-Bahnhöfen die künftigen Passagiere – und spuckte jene unverdaut wieder aus, die ihren Weg bereits hinter sich gebracht hatten. Schaute jemand? Blickte irgendjemand seinen Mitmenschen ins Gesicht? Höchstens hastig, verstohlen. Gerade so, als sei es verboten. War es verboten? Eine ältere Dame blickte sie kurz an und dann eilig zur Seite. Zog den Kopf im Angesicht der drei jungen Frauen in Leder und engen Tops zwischen die Schultern und hielt größtmöglichen Abstand. Was hatte sie? Angst?
Gedankenverloren blieb sie stehen – ein Fels in der wabernden Menge. Mit hoch erhobenem Kopf, die Menschen fest im Blick… doch ihre Begleiterinnen mahnten zur Eile. Hinein in den gierigen Schlund. Wie viele der Pendler und Gelegenheitspassagiere wohl Clive Barkers „Bücher des Blutes“ gelesen hatten und die Geschichte um den „Mitternachts-Fleischzug“? Keine Gefahr für die meisten… der Schlächter tötet nur schöne Menschen… als Nahrung für eine widerwärtige Rasse von Menschenfressern, die in den toten Tunnels des U-Bahn-Netzes leben.
Das gleißende Licht und die quietschenden Bremsen der herannahenden Bahn reißen sie aus ihren finsteren Gedanken. Die Bahn – erleuchtet in unnatürlich grellem Neonlicht - ist fast leer. Graffitis zieren die Sitzrücklehnen, Wände und in Teilen auch die Fenster. Schweigend verbringen sie die Fahrt – so lange, bis die gewünschte Station sie wieder an die Oberfläche entlässt. Schweigend auch der Weg zum Club.
Was hätte man auch sagen sollen?
Der Türsteher kannte sie, winkt sie durch. Drinnen ist es noch finsterer als die Nacht draußen. Stroboskoplichter zucken durch Nebelschwaden und die Bässe dröhnen viel zu laut – alles wie immer. Die Tanzfläche ist noch fast leer. Es ist früh. An der Bar gibt es zu trinken. Aber bitte nichts Exotisches. Falscher Laden. Bier oder Whiskey – was erwartet man anderes von einem Metal-Club? Cuba Libre? Sex on the Beach? Eine Bloody Mary ist vielleicht noch drin… Tomatensaft gegen den morgendlichen Kater hat bestimmt jemand in den Personalräumen stehen.
Alster – mit viel Limo… der Abend wird noch lang werden…
Die Minuten verrannen und der Club füllte sich. Ebenso die Tanzfläche, auf der sich nun Hunderte zu dem Wummern der Musik treiben ließen. Ein schüchtern wirkender, junger Mann schaute sie nun eine geschlagene halbe Stunde an. Sich krampfhaft an seinem Glas festhaltend. In regelmäßigen Abständen zuckte ein grünes Licht über seine Stirn, das den viel zu hohen Haaransatz und einen eitrig, roten Pinkel in Szene setzte.
War es oberflächlich, einen Menschen anhand eines Pickels zu beurteilen, der von Minute zu Minute größer zu werden schien? Kurz und knapp: Ja. Dennoch hielt es sie nicht davon ab, ihr Glas abzustellen und sich auf die Tanzfläche zu flüchten, als der Typ sich endlich ein Herz gefasst hatte und einige Schritt auf sie zukam, um sie anzusprechen. Die enttäuschten Blicke bohrten sich förmlich in ihren Rücken, als sie die Augen schloss und einen kurzen Moment regungslos da stand. Die Musik dröhnte. Ellbogen knufften sie unabsichtlich, Körper berührten ihren – mal flüchtig, mal hart.
Sie ließ sich fallen, geistig, tauchte in die Musik, tauchte in die Menge und gab sich dem Rhythmus hin, wie eine Liebende. Ihr Kopf war leer – keine Gedanken. Als sie die Augen öffnete, sah die den Pickelmann, der den Club mit gesenktem Haupt verließ. Vorbei an den regnungslosen, emotionslosen, robotorgleichen Türstehender, die einen Gast mit einem Nicken hereinbaten oder einem kurzen Kopfschütteln den Zutritt verwehrten. Niemals sprachen sie ein Wort. Überhaupt wurde wenig gesprochen – im Club, in der Stadt… gerade so, als versuchten die Menschen, jede Kommunikation aufzugeben und zu sprachlosen Wesen zu werden.
Der dröhnende Bass betäubt die Sinne, der Alkohol erledigt den Rest. Verschwitzt, angenehm erschöpft und ohne ein Wort mit irgendjemandem gewechselt zu haben, verlässt das Trio den Club. Die letzte U-Bahn ist längst gefahren – den menschenfressenden Monstern entgegen. Oder dem U-Bahn-Depot. Die Zugführer schlafen längst selig in ihren Wohnungen und Einfamilienhäusern am Stadtrand. Oder sind als Festbraten aufgetischt. Absurde Gedanken. Der Alkohol.
Ein langer Fußmarsch – eine lockere Stunde durch die herbstlich kühle Nacht. Die Straße glänzt und spiegelt die Bilder der Hochhäuser und Reklametafeln in den Pfützen. Es muss erneut geregnet haben. Hoffentlich tut es das erst in einer Stunde wieder. Schweigend und dicht beisammen gehen sie. Jede kennt den Weg, aber keine würde ihn alleine wagen. Fast ist es geschafft. Der Fußweg über den alten, verfallenen Friedhof trennt sie vom Wohnheim. Ein Park ist es heute - eine grüne Oase mitten in der Stadt. Eine morbide Oase, in der noch – wie zufällig ausgestreut – die Grabsteine längst vergessener Toter liegen. Im Hintergrund das hohe Gebäude der Jura-Fakultät. Wie viele waren dieses Jahr schon gesprungen? Zwei? Drei? Vier? Sie hatte aufgehört zu zählen.
Die Tür zum Haus steht offen – wie so oft. Irgendwer vergisst stets, sie zu schließen. Das Licht im Flur flackert nicht mehr. Es ist kaputt. Die ausgetretenen Stufen sind rutschig durch die nassen Füße, die sie heute Abend auf und abgegangen sind. Das Haus ist still. Leise verabschiedet sich jede der jungen Frauen in ihr Zimmer. Keine vergisst es, hinter sich die Tür sorgfältig abzuschließen.
Sie wirft ihre Jacke auf einen Stuhl und zieht die Stiefel aus. Ihr müder Blick fällt auf die Stereoanlage. Mühsam schält sie sich aus der Lederhose und zieht schnell eine weite, weiche Jogginghose an. Suchend blicken die Augen umher, bis sie gefunden haben, was sie suchten – die Kopfhörer. Das Kabel ist lang genug und sie legt sich aufs Bett und lässt sich von ruhiger Musik berieseln. Die Augen geschlossen, die Gedanken ins Leere laufen lassen. Keiner, der ihr vorschreibt, schlafen zu gehen, weil morgen ein ganz normaler Wochentag, mit ganz normalen Vorlesungen ist. Niemand…
Als sie die Augen öffnet, dämmert es. Kein Regen mehr. Die Sonne bricht durch die Wolken und man weiß schon jetzt: Es wird ein schöner Tag. Sie steht am Fenster, blickt hinunter zu dem Bäcker auf der anderen Straßenseite, der den ersten Frühaufstehern Brötchen verkauft. Sie betreten das Ladenlokal mit gesenktem Haupt und verlassen es ebenso wieder. Fast glaubt sie, die leise gemurmelten Bestellungen hören zu können. Ein Vogel fliegt vorbei – eine Taube. Andere Vögel sieht man hier kaum. Von der Hauptstraße hört man die ersten Autos, die vorbeirauschen – zu schnell, wie immer. Sonnenstrahlen berühren ihr Gesicht wie eine Liebkosung und alles was bleibt, ist die Einsamkeit…
geschrieben 2000 von Dana Brixia / NHS