An einem schönen und sonnigen Nachmittag im August saß ein kleiner Marienkäfer auf dem Blatt einer bunten Blume und ruhte sich etwas aus. Er war weit geflogen an diesem Tag.
Auf seinem Rücken waren sieben kleine, schwarze Punkte. Diese Punkte waren wichtig, denn so konnte jeder, der den kleinen Marienkäfer sah, gleich erkennen, dass er auch wirklich ein Marienkäfer war. Schließlich ist ja bekannt, dass Marienkäfer demjenigen, der sie sieht, Glück bringen. Und wären da nicht die Punkte auf seinem Rücken, dann sähe er ja aus, wie irgendein roter Käfer und niemand würde erkennen, welch ein Glück er hatte, einen solchen Glückskäfer gesehen zu haben.
So saß er dort auf dem grünen Blatt der Blume, mit seinen Punkten auf dem Rücken und ahnte nichts Böses. Da aber huschte ein schwarzer Schatten über ihn hinweg. Erst einmal, dann noch einmal. Und schließlich ein drittes Mal, ganz dicht über ihm. Es war großer Vogel, der auf der Suche nach etwas zu Fressen war. Und so ein schmackhafter Käfer, der kam ihm gerade recht. Ein Vogel weiß nämlich nichts von dem Glück, das so ein kleiner Marienkäfer bringen kann. Er weiß nur, dass er Hunger hat.
Im letzten Moment jedoch bemerkte der kleine Glückskäfer den Feind und flog so schnell wie er konnte von der Blume hinauf und in das dichte Blätterwerk eines Kirschbaumes. Dort versteckte er sich zwischen herrlich roten Kirschen.
Völlig überrascht von dem plötzlichen Start des Käfers jedoch, kullerte ein kleiner, schwarzer Punkt, der Punkt, der genau in der Mitte auf dem Rücken des Käfers ist, vom Rücken des kleinen Tieres und fiel holterdiepolter ins grüne Gras. Und da lag er nun. Traurig blickte er zu der Blume, auf der eben noch sein Marienkäfer gesessen hatte. Was sollte er nur ohne seinen Käfer anfangen? Er kannte doch gar nichts anderes, als auf dem Rücken des Glücksbringers zu sitzen und mit ihm durch die Welt zu fliegen.
Nachdem er einige Zeit im Gras gesessen und nachgedacht hatte, beschloss er schließlich, sich allein auf den Weg zu machen und die Welt auf eigene Faust zu erkunden. So hüpfte der kleine, schwarze Punkt munter drauf los. Aber schon nach einigen Sprüngen musste er erschöpft feststellen, dass das Reisen ohne fremde Hilfe sehr schwer für ihn war. Also beschloss er hier im Gras zu warten, bis er jemanden fand, der ihn mitnehmen würde.
Als erstes kam ein Grashüpfer vorbei und der kleine, schwarze Punkt rief: „He da! Schau mal unter dich! Hier liege ich! Bitte nimm mich mit!“ Aber der Grashüpfer schüttelte nur seinen Kopf und fragte: „Was soll ich denn mit einem schwarzen Punkt? Nein, nein. Da warte doch besser auf jemanden, der dich gebrauchen kann.“ Und schwups, weg war er.
Als zweites kam eine Biene, die den Nektar der Blume saugen wollte, auf der noch vor einiger Zeit der Marienkäfer gesessen hatte, zu dem der kleine, schwarze Punkt gehörte. Und wieder rief er: „He da! Liebe Biene, nimm mich mit!“ Aber auch die Biene schüttelte nur den Kopf und sagte: „Nein, nein, nein. Ich habe keine Zeit für so etwas. Ich muss Nektar sammeln und Honig machen, damit unsere liebe Königin ihre Kinderlein ernähren kann!“ Und summ summ summ, weg war sie.
Dann kam eine alte, fette, hässliche Kröte. Der kleine, schwarze Punkt dachte bei sich: Ich wäre schön dumm, wenn ich jetzt wieder fragen würde. Bestimmt sagt auch sie nein. Also sprang er einfach mit Schwung auf den Rücken der warzigen Kröte und ließ sich von ihr forttragen.
Mit großen Sprüngen machte die Kröte ihren Weg. Der kleine Punkt verschwand fast völlig zwischen den Flecken und Warzen, die die Kröte auf dem Rücken trug. Aber er wurde auch ordentlich durchgeschüttelt.
Und plötzlich – mit einem Satz – sprang die hässliche Kröte in einen Teich. Der Punkt wurde von ihr heruntergespült und hustete und prustete. Denn Schwimmen konnte er als Marienkäferpunkt natürlich nicht. Glücklicherweise verursachte der Bauchklatscher der Kröte eine Welle, die ihn sofort wieder ans Ufer spülte. Ich muss das nächste mal besser aufpassen, auf wem ich weiterreise. Sonst bringt mich mein Übermut noch um, dachte er bei sich. Und das wollte er natürlich nicht.
Nun saß er also am Rand des Teiches, in dem die Kröte laut quakte. Es war ein ohrenbetäubendes Geräusch – aber glücklicherweise hatte der kleine, schwarze Punkt ja keine Ohre. So störte er sich nicht allzu sehr daran. Und während er so da saß und nachdachte, wie es weitergehen sollte mit ihm, da kam ein wunderschöne Libelle und setzte sich ebenfalls an den Rand des Teiches. Ihr langer und schlanker Körper glänzte blau und grün. „Hallo, würdest du mich vielleicht ein wenig mitnehmen?“ fragte der kleine Punkt das große Insekt. „Wo willst du denn hin?“ fragte ihn das schöne Tier. „Ich weiß nicht“, antwortete er. „Ich möchte ein wenig die Welt erkunden.“ „Woher kommst du denn?“ „Ich weiß nicht genau. Ich saß auf einem Glückskäfer und dann bin ich von ihm heruntergefallen.“ „Das ist mir ja ein schöner Käfer“, lachte die Libelle. „Wohl eher ein Unglückskäfer! Nein, nein, mein Lieber. Ich kann dich nicht mitnehmen. Verstehe: ich bin eine Königin. Eine Königsjungfer. Da kann ich doch keinen Käferpunkt mit mir herumtragen. Ich würde mich ja zum Gespött unter meinesgleichen machen.“ Und schon flog sie davon.
Traurig dachte der kleine Punkt, dass es wohl tatsächlich ein großes Unglück gewesen war, dass der kleine Glückskäfer ihn verloren hatte. Ob er den Käfer wohl je wieder sehen würde? Ob er je diesen schrecklichen Teichrand würde verlassen können?
Und noch während er nachdenklich und unglücklich dort im feuchten Gras saß, kam eine schwarzweiß getigerte Katze vorbei. Ohne dass der kleine Punkte sie bemerkte, schlich sie um den Teich, in der Hoffnung, etwas Essbares zu finden. Und während sie so umher strich, berührte eines ihrer Schnurrhaare den Grashalm, auf den der kleine, schwarze Punkt geklettert war, um besser Ausschau halten zu können. Und prompt verfing der Marienkäferpunkt sich in den langen Barthaaren der Tigerkatze und wurde mitgerissen. Erschrocken klammerte er sich fest. Die Katze hatte von ihrem blinden Passagier jedoch nichts bemerkt und trug ihn schließlich von dem Teich fort und in einen fremden Garten. Dort legte sie sich in den frisch geschnittenen Rasen und begann, sich zu putzen. Unweigerlich kamen auch ihre langen Schnurrhaare dran, auf denen der kleine Glückspunkt saß. Hastig ließ er sich fallen, als ihm die lange, rosafarbene Zunge der Katze zu nahe kam. Und da saß er wieder. Allein. In der Fremde. Außerdem begann langsam die Dämmerung. Die Welt um ihn herum schien langsam alle Farben zu verlieren. Langsam wurde alles grau und grauer. Plötzlich huschte ein großer, dunkler Schatten über ihn hinweg. Ein Spatz. Der Vogel hatte ihn entdeckt und dachte, der kleine Punkt könnte noch ein kleiner Appetithappen vor dem Schlafengehen werden. Natürlich wusste der Vogel nicht, dass es nur ein kleiner, verlorener Marienkäferpunkt war. Bösartig pickte er auf den armen Punkt ein, der sich nicht recht zu helfen wusste. Schließlich nahm er aber alle Kraft zusammen und hüpfte in ein nahes Gebüsch. Dort war es schon so dunkel, dass der Vogel den schwarzen Punkt nicht mehr entdecken konnte. Wütend und enttäuscht flog er schließlich von dannen.
Am nächsten Morgen aber, als der kleine, schwarze Punkt aufwachte und sich vom Schrecken des vergangenen Abends erholt hatte, sah er auf einem dünnen Ast, direkt unter sich, einen Marienkäfer sitzen. Zwar war es nicht der, der ihn verloren hatte, aber was sollte das ihn kümmern? Er ließ sich einfach von seinem Ast aus herabplumpsen und landete auf dem Rücken, des kleinen Glückskäfers.
So gibt es nun einen Marienkäfer, der nur noch sechs Punkte hat, einen anderen, der acht Punkte hat. Und der kleinen, schwarze Marienkäferpunkt fliegt mit dem achtpunktigen Käfer weiter um die Welt.
© 2002 by Dana Brixia für Dorian